Jean-Paul Amouroux: Der Hüter des französischen Boogie-Woogie (1943-2022)
Jean-Paul Amouroux, geboren am 17. Januar 1943 in Aurillac im französischen Département Cantal, war einer der bedeutendsten europäischen Boogie-Woogie-Pianisten und gilt als der wichtigste französische Botschafter dieser ursprünglich amerikanischen Musikrichtung. Über fünf Jahrzehnte prägte er die internationale Boogie-Woogie-Szene als Musiker, Komponist, Festivalleiter und leidenschaftlicher Bewahrer der Traditionen. Seine fast klassisch anmutende Herangehensweise an das Piano machte ihn unverwechselbar und verschaffte ihm den Respekt von Legenden wie Memphis Slim, der ihm den Spitznamen „Boogie Woogie Slim“ verlieh. Amouroux verstarb am 4. Dezember 2022 in Suresnes bei Paris im Alter von 79 Jahren und hinterlässt ein außergewöhnliches musikalisches Vermächtnis.
Frühe Jahre und musikalische Entdeckung
Die musikalische Laufbahn von Jean-Paul Amouroux begann bereits in der Kindheit mit klassischer Klavierausbildung. Mit nur zehn Jahren gewann er bereits den ersten Preis beim nationalen Musikwettbewerb „Concours National du Royaume de la Musique“, was sein außergewöhnliches Talent früh unter Beweis stellte. Doch der entscheidende Wendepunkt seines Lebens kam mit 14 Jahren, 3 Monaten und 6 Tagen – ein Datum, das er zeit seines Lebens präzise zu nennen wusste.
Wie Jerry Lee Lewis zu seiner Zeit rebellierte auch der junge Amouroux gegen die erstickende Atmosphäre seines religiösen Internats, indem er das Harmonium der Kapelle zweckentfremdete. Als er die rollenden Bässe von Pete Johnsons „Death Ray Boogie“ entdeckte, war sein Schicksal besiegelt. Die Hymnen hatten ein Ende – ab sofort würde es Jazz, Swing und Boogie-Woogie sein. Seine Familie war von dieser Entscheidung wenig begeistert und warf ihm vor, „Kannibalenmusik“ zu spielen, doch Amouroux ließ sich nicht beirren.
Paris-Jahre und Zusammenarbeit mit den Legenden
1966 zog der junge Amouroux nach Paris, das zu jener Zeit eine magnetische Anziehungskraft auf viele afroamerikanische Musiker ausübte, seien es Besucher oder Exilanten. Die französische Hauptstadt bot eine einzigartige Gelegenheit, direkt von den Meistern zu lernen. Amouroux hatte das außergewöhnliche Glück, mit den legendären Pianisten Memphis Slim, Sammy Price und Willie Mabon sowie mit Swing-Größen wie Lionel Hampton, Milt Buckner, Jay McShann und Willie Dixon zu arbeiten – eine Erfahrung, die nur wenigen europäischen Musikern zuteil wurde.
Memphis Slim, der viele Jahre in Paris lebte, wurde zu Amourouxs großem Idol und enger Freund. Diese besondere Verbindung dokumentierten sie durch gemeinsame Aufnahmen, darunter die legendären Alben „Boogie For 2 Pianos“ (aufgenommen 1985 im Caveau de la Huchette) und „Dedication To Memphis Slim“ (1982). Memphis Slim war es auch, der Amouroux den liebevollen Spitznamen „Boogie Woogie Slim“ verlieh – eine Ehre, die die gegenseitige Wertschätzung widerspiegelte.
Der klassische Ansatz als Markenzeichen
Was Jean-Paul Amouroux von vielen anderen Boogie-Woogie-Pianisten unterschied, war sein fast klassisch anmutender Zugang zum Instrument. Begabt und kompromisslos, bevorzugte er einen runden, etwas gedämpften Klang. Bei Amouroux gab es keine Kompromisse – Stride-Piano oder Ragtime kamen nicht in Frage. Er positionierte sich bewusst als historischer Hüter des traditionellen Boogie-Woogie und produzierte sowohl als Solist als auch in verschiedensten Orchesterformationen eine beeindruckende Diskografie.
Diese Hingabe zur Perfektion und sein unermüdlicher Einsatz für die Bewahrung der ursprünglichen Spielweisen machten ihn zu einer respektierten Autorität in der Szene. Wer von Amouroux das Gütesiegel erhielt, konnte sich glücklich schätzen – „estampillé Amouroux“ zu sein, bedeutete mehr als jeden goldenen Gürtel.
Produktive Schaffensperiode und Auszeichnungen
Jean-Paul Amouroux wurde 1973 professioneller Musiker und begann eine außergewöhnlich produktive Karriere. Bis 2015 hatte er eine umfassende Diskografie von 42 Alben zusammengestellt und dabei 190 eigene Kompositionen geschaffen. Seine musikalische Vielseitigkeit zeigte sich in verschiedensten Formationen – vom Piano-Solo bis zum großen Orchester war er zu Hause.
1989 erhielt Amouroux vom Hot Club de France den Grand Prix für sein Album „Orchestral Boogie Vol 1“ – eine prestigeträchtige Auszeichnung, die seine herausragenden Leistungen würdigte. 1991 folgte die Anerkennung durch die Académie du Jazz, die seine ersten drei Alben für das Label Jazztrade auszeichnete. Diese Ehrungen bestätigten seinen Status als einer der führenden europäischen Boogie-Woogie-Interpreten.
Mediale Präsenz und Bildungsarbeit
Amouroux war nicht nur ein begnadeter Musiker, sondern auch ein leidenschaftlicher Vermittler und Botschafter des Boogie-Woogie. Zwischen 1983 und 1985 moderierte er 60 einstündige Radiosendungen bei Radio Soleil, in denen er 700 Boogie-Woogie-Stücke programmierte. Diese Sendungen machten ihn weit über Frankreich hinaus bekannt und trugen erheblich zur Popularisierung des Genres bei.
Von 1995 bis 1997 realisierte er zusammen mit Jean-Michel Proust mehrere Serien von Radiosendungen auf France Inter und TSF, die die Geschichte des Boogie-Woogie nachzeichneten. Seine Expertise als Musikhistoriker zeigte sich auch in seiner Tätigkeit als Mitarbeiter der Zeitschrift Jazz Classique in den 2000er Jahren und als Leiter der Kollektion „Boogie Woogie Story“ beim Label Milan Jazz von 1991 bis 1993.
Das Festival International de Boogie Woogie de La Roquebrou
1999 verwirklichte Jean-Paul Amouroux seinen großen Traum: Er gründete zusammen mit Partnern das Festival International de Boogie Woogie de La Roquebrou in seinem Heimatdepartement Cantal. Was als lokale Veranstaltung begann, entwickelte sich unter seiner künstlerischen Leitung zum größten Boogie-Woogie-Festival der Welt – ein wahrhafter internationaler Treffpunkt der Szene.
Amourouxs Qualitäten als künstlerischer Direktor transformierten die kleine Gemeinde La Roquebrou mit nur 950 Einwohnern während der Festivaltage in ein internationales Zentrum des Boogie-Woogie. Er brachte Pianisten aus aller Welt, sogar aus Australien, nach Frankreich und machte das Dorf zur „Mekka des Boogie-Woogie“. Das Festival wurde zu einer Institution, die über die Jahre hinweg Legenden wie Steve Clayton, Axel Zwingenberger, Jean-Pierre Bertrand und viele andere anzog.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2022 leitete Amouroux das Festival mit unverminderter Leidenschaft. Das Festival wird auch nach seinem Ableben fortgeführt – ein lebendiges Denkmal für seinen Gründer und dessen Lebenswerk.
Musikalische Innovationen und Experimente
Jean-Paul Amouroux war nicht nur ein Traditionalist, sondern auch ein experimentierfreudiger Künstler. 1994 wagte er sich an ungewöhnliche Instrumente heran und nahm Boogie-Woogie am Cembalo, Celesta und an der Hammond B3-Orgel auf. 1995 schrieb er Musikgeschichte, als er als erster Musiker überhaupt Boogie-Woogie an der großen Kirchenorgel spielte und aufnahm.
2012 gründete er das „Jean-Paul Amouroux Boogie Big Band“, das erste große Orchester, das sich ausschließlich auf Boogie-Woogie spezialisierte. 2014 realisierte er ein faszinierendes interkulturelles Projekt: Er nahm Boogie-Woogie mit Musikern aus Burkina Faso in Ouagadougou auf – eine Begegnung zweier verwandter Stile, die zuvor nie realisiert worden war.
Treue Weggefährten und internationale Anerkennung
Während seiner gesamten Karriere wurde Amouroux von kenntnisreichen und treuen Rhythmusgruppen begleitet. Besonders hervorzuheben sind der Schlagzeuger Stéphane Roger und der Bassist Gilles Chevaucherie, die über Jahre hinweg seine musikalischen Partner waren. Diese Kontinuität ermöglichte es, einen unverwechselbaren Sound zu entwickeln und auf höchstem Niveau zu musizieren.
Die internationale Anerkennung spiegelt sich auch in der Aufnahme in die Boogie-Woogie Hall of Fame wider – eine Ehre, die nur wenigen europäischen Musikern zuteil wird. Seine Zusammenarbeit mit dem Albert Ammons-Boxset wurde als meisterhaft bezeichnet und dokumentiert seine Expertise als Musikhistoriker.
Das Vermächtnis eines Meisters
Jean-Paul Amouroux hinterlässt ein außergewöhnliches Vermächtnis als Musiker, Komponist, Festivalleiter und Botschafter des Boogie-Woogie. Seine 42 Alben und 190 Kompositionen bilden einen bedeutenden Beitrag zum Genre, während sein Festival internationale Maßstäbe gesetzt hat. Er wird als der „Kreuzritter des ursprünglichen Boogie-Woogie in Frankreich“ in Erinnerung bleiben, der unzählige Berufungen geweckt hat.
Seine wissenschaftlichen Beiträge zur Erforschung des Boogie-Woogie, seine umfangreichen Archive und seine Rolle als Mentor für nachfolgende Generationen von Musikern machen ihn zu einer einzigartigen Figur in der Musikgeschichte. Memphis Slims Spitzname „Boogie Woogie Slim“ für seinen französischen Freund war mehr als nur ein Kosename – er war die Anerkennung einer Lebensleistung.
Ein Leben für den Boogie-Woogie
Jean-Paul Amouroux verkörperte wie kein anderer die Brücke zwischen der ursprünglichen amerikanischen Tradition des Boogie-Woogie und seiner europäischen Interpretation. Sein fast klassischer Ansatz am Piano, gepaart mit einer tiefen Kenntnis der historischen Wurzeln, machte ihn zu einem unverwechselbaren Künstler.
Das plötzliche Ableben am 4. Dezember 2022 beendete eine Ära, aber sein Einfluss auf die internationale Boogie-Woogie-Szene wird weiterleben. Das von ihm geschaffene Festival in La Roquebrou setzt sein Werk fort, und die von ihm ausgebildeten und inspirierten Musiker tragen seine musikalische Philosophie in die Zukunft. Jean-Paul Amouroux bleibt für immer der große Hüter des französischen Boogie-Woogie – ein Künstler, der sein Leben vollständig dieser einzigartigen Musikform widmete.